Texte

Frank Schablewski | Hintergründe 

Kirsten van den Bogaard entwirft Bilder, die einzigartig sind, weil sie den russischen Konstruktivismus und die deutsche Romantik in der bewussten Gegenüberstellung von Wirklichkeit und Vorstellung verbindet und damit der augenblicklichen Gegenwart die größtmögliche zeitliche Dimension verleiht: den Ausblick ins Zukünftige. Die Idee des schwarzen Quadrats, des weißen Quadrats verwendet sie für diese gedankliche Welt ihrer Werke. Die in den Bildgrund blickenden Figuren finden ihre verlorenen Ursprünglichkeit wieder vor der Unendlichkeit in der Bildfläche und verweisen auf die Romantik, in der das menschliche Wesen in eine Landschaft gestellt wird, die eine Seelenlandschaft spiegelt.

Für das 21. Jahrhundert macht Kirsten van den Bogaard aus dem schwarzen Quadrat wie aus dem weißen Quadrat ein Rechteck, das in seiner Materialität ein schwarzer wie weißer Spiegel sein kann. Während die Romantik Geburt und Vergänglichkeit in die Anschauung rückt, ist es für die Malerin in der jetzigen Zeit aber vielmehr der Augenblick, der sich in ihren Werken abzeichnen soll, auch wenn die Figuren jedes Alter haben und männlich wie weiblich sind. So werden die meisten ihrer Werke nicht mit Begriffen betitelt, sondern mit der exakten Zeitangabe ihrer Entstehung. Es gibt ein musikalisches Werk, dass den Zeitraum beleuchtet, indem die Künstlerin ihre Motive zu tauchen scheint: „L’après-midi d’un Faune“ von Claude Debussy. Das spiegelt die helle, impressionistische Farbpalette von Kirsten van den Bogaard, womit sie den unmittelbaren visuellen Eindruck eines Menschen in einer nachmittäglichen Situation einfängt, in seiner Augenblickwirkung, dieser reichen Begegnung mit einer Figur durch Licht und Schatten, ohne formauflösend zu wirken in ihrem fließenden Farbspiel.

Die Hintergründe, die Kirsten van den Bogaard auswählt, entsprechen einer Empfindung. Diese absolute Ungegenständlichkeit als Bildinhalt wie künstlerischen Ausdruck verschließt sich erst einmal gegenständlich interpretierbare Assoziationen. Die flächigen Hintergründe entwickeln sich dennoch zu erfundenen Landschaft oder Stadtansichten, die man glaubt durch die gemalte Figur empfinden zu können. Die sichtbare Leere täuscht nicht und gewinnt so an Bedeutung, als sähe man so das einzig Wirkliche im Dasein: das tiefe Erlebnis einer wirklichen Stimmung, eines wirklichen Lichts.

Der belassene Hintergrund ist wie eine unberührte Natur, eine friedliche Welt. Das berührt auch die Strömungen, die die Globalisierung wie Digitalisierung auslösen, verbunden mit Ortswechsel und Entwurzelung, genauso wie die Versuche sich in der neuen, fern bestimmten, entindividualisierten Umgebung durch Sehnsucht zu empfinden. Kirsten van den Bogaard macht so den Bildgrund auch zum Grundstück ihrer Motive. Die Künstlerin gibt uns die Figur auf Schwarz und auf Weiß wie eine Beglaubigung der Farben. Im Arabischen wird diese Wendung gebildet mit dem Wort für das Buch. Die türkische Sprache stellt Schwarz in Zusammenhang mit Schnee, wobei die Farbe wie ein Gebiet ist, zudem der Schnee schmilzt. Die hebräische Sprache verbindet das Wort für Schwarz mit dem Begriff für Befreiung. Auf weißen Flächen schweigt das Bild. Die Stille – ursprünglich ohne Bewegung, ohne Geräusch – bezeichnet in der deutschen Sprache die empfundene Lautlosigkeit, die Abwesenheit jeglichen Geräusches, aber auch Bewegungslosigkeit. Gegenbegriffe sind Geräusch, Lärm und Ähnliches, vielleicht sogar das Schwarz. Stille unterscheidet vom Schweigen. Eine besondere Verbreitung hat das Schweigen in der Spiritualität. So verwandelt Kirsten van den Bogaard die Welt in Seele und Geist durch die von Sehnsucht nach dem Unendlichen bewegte Fantasie, abstrakt, da das Unendliche nicht in einer Form zu fassen ist, figürlich für die eigenste Subjektivität: Ihr künstlerisches Merkmal.

Frank Schablewski, Schriftsteller

 

Dr. Andrea Brockmann | Aus der Zeit genommen

Kirsten van den Bogaard interessiert sich für Menschen, sie beobachtet gerne, nimmt alltägliche Situationen in der Öffentlichkeit aufmerksam wahr und entwickelt daraus ihre Kunst. Die Künstlerin, 1963 in Hamburg geboren, nimmt Schnappschüsse zum Ausgangspunkt ihrer Malerei, in der sie ihre Beobachtungen wiedergibt, aus einer wechselnden Perspektive, teilweise im Anschnitt, im Hoch- oder Querformat. Was sie von gewöhnlichen Bildern mit Ansammlungen von Menschen unterscheidet, ist der zufällige Charakter ihres Motivs, ist die Absichtslosigkeit, welche die dargestellten Menschen im Bezug auf die jeweilige Aufnahme an den Tag legen. Mag jeden auch eine bestimmte Absicht geleitet haben, im Augenblick der Aufnahme da gewesen zu sein – für das Bild zählt das nicht. Denn die Ziele der Menschen offenbaren sich nicht. Sie wurden im Verfolgen ihres möglichen Wollens lediglich für einen winzigen Moment unterbrochen, sie wurden aus der Zeit genommen. So wie ihre Absichten bleibt die persönliche Seite der Menschen verborgen. Allein ihre äußere Erscheinung, ihr Alter, Geschlecht, Gang und Kleidung oder Accessoires erlauben, wenn auch nur oberflächliche, Schlüsse.

Gleichwohl fehlt ihnen die Atmosphäre der Großstadtszenerie. Statt an einem identifizierbaren Ort befinden sie sich augenscheinlich in einem unbestimmten Irgendwo, das vielleicht auch ein Nirgendwo ist. Denn die Künstlerin konzentriert sich in ihrem Malakt auf die menschliche Figur, die zumeist von hinten oder im Halb- und Viertelprofil dargestellt wird. Weiß oder schwarz hochglanzlackierte Aluminiumplatten, auf den Kirsten van den Bogaard malt, liefern den anonymen Hintergrund und nicht die vielgliedrige Architektur der Stadt und das Outfit ihrer Signale. Auf den spezifischen Ort der Aufnahmen deutet nichts hin. Kirsten van den Bogaard konzentriert sich auf den Einzelnen in seiner Identität, auf Konstellationen, auf Paare und Gruppen, auf Bewegungen und Haltungen der Menschen, auf das Situative. Die Titel ihrer Werke geben keine Ortsangabe oder ein Datum an, sondern nur die Sekunde der Beobachtung, auch ein Hinweis auf das Zufällige, das Flüchtige, das Allgemeingültige.

Nicht bloß, was die Bilder wiedergeben, ist Aussage, sondern ihre spezifische Form, die ihre Betrachter gleichsam in das dargestellte Geschehen einbindet, sie beinahe ein Bestandteil derselben werden lässt, um das Bild als einen Akt aktiver Wahrnehmung bewusst zu machen. Wir spiegeln uns im Hochglanzlack, im Schwarz stärker als im Weiß, und treten so in eine direkte Beziehung zum Dargestellten. Wir finden uns in einer Konstellation, in einer Haltung, in einer Situation wieder und können so unsere eigene Geschichte miterzählen.

Es geht der Künstlerin in ihren Bildern weder um ein individuelles Porträt der vorbeieilenden Menschen noch um eine Sozialreportage unserer westlichen Kultur, obgleich das individuelle Gebaren ihrer unfreiwilligen Modelle sowie ihre besondere Kleidung reizvolle gesellschaftliche und kulturelle Aufschlüsse vermitteln können. Sie arbeitet vielmehr an einer Art Chronik. Seit 2006 malt sie in dieser Form ihre Beobachtungen auf Aludibond, dem Material für Foto- und Schilderdruck. Das Motiv gibt ihr immer wieder neue Impulse und Inspiration. „Menschen sind nie langweilig“, sagt Kirsten van den Bogaard und setzt ihre Werkserie  beständig fort.

Dr. Andrea Brockmann, Kunstverein Galerie Münsterland e.V.

 

Dr. Martin Feltes | Beobachtungen

Beobachtungen bilden das Leitthema von Kirsten van den Bogaard, Beobachtungen von Menschen im städtischen Umfeld der Straßen und Plätze. Mit ihrem kreativen Blick hat die Künstlerin unspektakuläre Alltagsszenen festgehalten. Menschen, die stehen, sitzen, hasten oder bummeln, Menschen unterwegs, beim Einkaufen, Fotografieren oder Schauen. Menschen aus allen Generationen. Entscheidendes Kriterium für die Auswahl der Motive zur malerischen Umsetzung ist ihre appellative Kraft. Kirsten van den Bogaard wählt die Motive aus, die die Phantasie des Betrachters aktivieren. Ihre Beobachtungen von Menschen im Alltag sollen uns anregen, Geschichten zu erfinden, zu erzählen und auszumalen. Das macht die Sache interessant und spannend.

Unterstützt wird dieser Appell an die schöpferische Einbildungskraft des Betrachters durch den bewussten Verzicht auf einen architektonischen oder landschaftlichen Umraum, sowie durch den häufigen Ausschnittcharakter der figürlichen Motive. Fehlendes gilt es in der Erfindungsgabe des Betrachters zu ergänzen, dessen Position vor dem Gemälde zudem durch das obligatorische Motiv der Rückenfigur zitiert wird. Und der Betrachter ist auch im Bilde durch die Spiegelungen seiner Umrisse auf dem Bildträger der hochglänzenden Aluminiumplatten.
Der Betrachter wird zum Beobachter.

Kirsten van den Bogaard malt in fotorealistische Manier, die Präzision der malerischen Umsetzung beeindruckt: Körperlichkeit entsteht durch modellierende Farbverläufe, durch Lichtreflexe sowie durch das lebendige Spiel von Licht und Schatten. Eindrucksvoll ist auch die malerische Wiedergabe des Inkarnats sowie der Stofflichkeit der Haare und Kleidung, deren hoher Wahrscheinlichkeitsgrad ebenfalls an das Medium der Fotografie erinnert. Doch was auf dem ersten Blick wie ein Foto wirkt, lässt eine neue, eine eigene Bildrealität entstehen.

Denn im Unterschied zu fotografischen Vorlagen scheinen die Figuren gleichsam auf dem schwarzen oder weißen Malgrund zu schweben, was durch den Kontrast der matt aufgetragenen Acrylfarbe mit dem glänzenden, sterilen und staubfreien Malgrund erzielt wird. Und im Widerspruch zur Momentaufnahme der Fotografie atmen die Gemälde eine Aura des Zeitlosen. So wird das Alltägliche und Banale in der Kunst von Kirsten van den Bogaard zu etwas Besonderem und Geheimnisvollen, womit ein scharfer Gegensatz zu der inflationären Verbreitung von Bildern im Medium der Fotografie gesetzt wird.

Geheimnisvoll strahlen die Gemälde der Künstlerin auch durch die Schatten der Figuren im unwirklichen Raum, durch spannungsvolle Kompositionen sowie durch den Klang der Farben, der zum ästhetischen Reiz der Gemälde beiträgt.
Die durch Licht, Schatten und Farben erzielte malerische Präsenz der Motive steht im aufregenden Kontrast zu der distanzierten Malweise der Künstlerin, die keine emotionale Beteiligung und subjektive Befindlichkeit ausdrückt. Kirsten van den Bogaard malt nicht, was sie fühlt, sondern was sie gesehen hat. Und spannungsvoll ist auch der nähere Blick auf ihre Protagonisten: Konsequent verzichtet Kirsten van den Bogaard sowohl auf eine Psychologisierung der figürlichen Motive als auch auf die Darstellung ihrer physiognomischen Individualität. Denn Gesichter sind bei diesen Rückenfiguren nicht zu erkennen. Die gesehenen Individuen werden in ihrer malerischen Interpretation zu Typen.

So erweist sich das künstlerische Werk von Kirsten van den Bogaard zu einem gemalten Spiegelbild der Gesellschaft, in dem sich auch der Betrachter spiegeln kann. Ausgestellt wird in der Galerie Lake eine malerische Position, die in ihrer ästhetischen Kraft, ihrer artistischen Umsetzung sowie in ihrer Aura des Geheimnisvollen und Deutbaren fasziniert.

Dr. Martin Feltes, Kunstkreis Cloppenburg e.V.

 

Dr. Ewald Bettinga | Reflexion

Kirsten van den Bogaard stellt den Menschen in den Focus ihrer Kunst. Einzelpersonen oder Gruppen werden selektiv, ohne zunächst sichtbare Einbindung in ihre Umgebung, dargestellt. Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit ist die Beobachtung der Menschen. Beim Laufen, beim Sitzen, beim Ausruhen, mit dem Smartphone am Ohr oder beim Fotografieren.

Die Figuren sind in beeindruckender Weise ausmodelliert. In der Farbigkeit, der Stofflichkeit, dem Eingetauchtsein in das Sonnenlicht und insbesondere in der Darstellung des Inkarnats gelangen sie zu einer absoluten Glaubwürdigkeit.

Diese Glaubwürdigkeit lässt sie den Betrachter recht nahe kommen, obwohl die Personen in einer nicht definierten weißen oder schwarzen Fläche zu schweben scheinen und lediglich durch den Schattenwurf der Körper eine Bodenhaftung vermittelt wird.

In der Regel versuchen wir als Betrachter über die Körperhaltungen, über die Bewegungsabläufe, über die Kleidung und insbesondere über die Mimik von Menschen, etwas über ihre Handlungen, über ihre Absichten, vielleicht sogar etwas über ihre Gefühle zu erfahren. Über das äußere Erscheinungsbild kann man die Menschen in den Werken der Künstlerin sofort unserer Zeit zuordnen. Schnell möglich über die Kleidung, Frisuren und Accessoires. Klare Hinweise auf die Absichten und die persönliche Seite der Menschen sind verborgen.

Und in diesem Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozess wäre es für den Betrachter außerordentlich hilfreich, die dargestellten Personen in ihrer Umgebung zu sehen. In den Bildern von Kirsten van den Bogaard wird uns, als Betrachter, eine gemalte Umgebung aber nicht angeboten. Ebenso können wir nur eingeschränkt auf die individuelle Physiognomie der Personen zurückgreifen, da sie zumeist von hinten oder im Halb- und Viertelprofil dargestellt werden.

Der Künstlerin geht es somit nicht um ein individuelles Portrait der gezeigten Menschen, und sie malt uns keinen identifizierbaren, umgebenden Bildraum. Das wesentliche eines Raumes ist die Dreidimensionalität. In der kunsthistorischen Betrachtung der Malerei ist seit der Entdeckung der Zentralperspektive in der Frührenaissance fast immer das Bemühen vorhanden, auf der Zweidimensionalität, auf der Fläche des Bildträgers, so zu gestalten, dass Tiefe, dass Räumlichkeit entsteht. Und das nicht nur über die Perspektive, auch über ein Hell und Dunkel, über ein Warm und Kalt, über ein Mehr und Weniger an Transparenz und über Farbigkeit, so wie bei den Fauvisten, deren Zielsetzung die Schaffung von Farbräumen war.

In den Bildern der Künstlerin sind die Personen, einzeln oder als Gruppe, über Plastizität und Perspektive so dargestellt wie es unserem Sehen entspricht. Wäre der Malgrund eine Leinwand, könnten wir uns als Betrachter den Umgebungsraum gedanklich und individuell selbst gestalten. Die Künstlerin bietet uns aber die Möglichkeit einer aktiven Wahrnehmung. Durch die Verwendung von Aluminium-Dibond-Platten als Malgrund, spiegeln wir uns als Betrachter, im Schwarz stärker als im Weiß, und werden mit unserer realen Umgebung Bestandteil eines Umgebungsraumes im Bild. Da die Figuren in mattem Acryl gemalt sind und wir uns im Glanz spiegeln, stehen wir, relativ zu unserem Betrachtungsabstand, in der Raumtiefe hinter den dargestellten Personen in ihrem Sichtfeld.

Unsere Augen wandern beim Betrachten der Bilder zwischen gemaltem Abbild und der Reflexion hin und her. Zwischen einer fixierten Momentbeschreibung von Menschen und deren Tun und einem beweglichen, durch den Betrachter veränderbaren Bildraum. Somit stehen dann auch zwei Zeitformen in einem Bild nebeneinander. Das gemalte Abbild als fixierte Vergangenheit und das sich immer in einem Jetztzustand befindliche, veränderbare Spiegelbild als Gegenwart.

Als ein Beispiel möchte ich auf die fotografierende Person auf schwarzem Grund hinweisen. Obgleich sie uns als Betrachter den Rücken zuwendet, fotografiert sie uns im reflektierten Raum. Die gemalte Person aus der Vergangenheit fotografiert die Zukunft. Die Künstlerin schafft es, Menschen unserer Gesellschaft, die sich auf verschiedenen, zeitlichen Ebenen befinden, und auf verschiedenen räumlichen Ebenen befinden, zusammenzuführen.

Dieses spannungsvolle Komponieren durch Malen und Nichtmalen, durch Verwendung matter Farben auf glänzendem Grund, führt in den Werken von Kirsten van den Bogaard zu einem hohen Maß an sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten, zu einem hohen Maß an Ästhetik. Und das erinnert an ein Diktum von Nietzsche. Nach diesem Diktum ist „das   ästhetische Phänomen einfach und elementar. Als ein Verhältnis, das sich zwischen den Dingen oder deren Schatten, zwischen den buchstäblichen oder metaphorischen Zuständen und zwischen den wirklichen und fiktiven Ereignissen alltäglichen Lebens abspielt.“ Und weiter sagt er: „es zu finden und zu fassen ist wahrlich schwer“. Und da bleibt mir nur, Nietzsche zu antworten: Wir hier im Kunstpavillon Aurich haben heute ein “ ästhetisches Phänomen “ gesehen.

Dr. Ewald Bettinga, Kunstverein Aurich e.V.